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ölsardinen

Kalle, Erik, Hendrik, seine Freundin, ein paar leere und halbvolle Biergläser, eingelegte Ölsardinen und ich befinden uns eingemummelt in warme Fleecedecken unter den Heizstrahlern des Café Colette, als ein pinker Partybus eine Runde an uns vorbei um den Stockholmer St Eriksplan dreht. Die Scheiben des riesigen Partygefährts sind beschlagen vom Atem der Feiernden, die sich vor dem Betreten des Busses in diesem Oktober 2020 offensichtlich nicht all zu viele Gedanken um Aerosole oder Abstandsregeln gemacht haben. Ich zücke mein altes iPhone, das auf dem Tisch liegt, der zumindest zwischen Kalle und mir einen kleinen Sicherheitsabstand markiert und schicke ein Foto in meine deutsche Familiengruppe. Was denkst du eigentlich über die schwedische Coronapolitik? fragt mich Hendrik, der genau wie seine Freundin und Kalle Journalismus an der Universität Stockholm studiert und sich momentan während eines Praktikums in der Redaktion eines Stockholmer Abendblattes intensiv mit Coronanachrichten auseinandersetzt.

Echt jetzt??? Die Welt geht unter und Stockholm feiert, schreibt meine Mutter aus Deutschland als Antwort auf das pinke Partymonster. Und zumindest (und hoffentlich nur) mit dem zweiten Teil des Satzes hat sie ziemlich Recht. Während sich die restlichen Europäer auf einen zweiten Lockdown vorbereiten, haben sich unzählige junge Stockholmer anscheinend ganz besonders sorgfältig auf diesen Samstagabend vorbereitet. Kichernde Unfallopfer, blutüberströmte Schönheiten und glitzernde Teufel mit Krawatte spazieren in Massen in die mexikanische Bar neben dem Café Colette, in der der Musiklautstärke nach zu urteilen ein rauschendes Halloweenfest stattfindet.

Ich erzähle meinen schwedischen Freunden, wie ich während des deutschen Lockdowns wochenlang zuhause saß, die Zeitung gelesen, gemalt, einmal in der Woche einen Kuchen meiner Oma mit Sicherheitsabstand genossen habe und ungläubig die Instagramstories meiner schwedischen Kontakte verfolgt habe. Während sich Deutschland im Lockdown befand, hat das Café à La Lo ein glitzerndes Einweihungsfest mit vielen alten und jungen Besuchern gefeiert. Das ist doch kein Leben, kommentiert Kalle, obwohl dessen Mama schwer krank ist und er deshalb der vorsichtigste Schwede ist, den ich bisher kennengelernt habe. Wegen ihm genießen wir die Ölsardinen und das Bier nicht im warmen Café sondern eingekuschelt in warme Fließdecken an der frischen Luft. Hendrik erzählt, dass er und seine Großeltern selbst auch Corona hatten und er trotzdem hinter der schwedischen Strategie steht; Der Gedanke dahinter ist ja, dass man sie ganz lange durchhalten kann, nicht nur ein paar Wochen während einem strikten Lockdown sondern viele Monate, vielleicht sogar Jahre. Während sich mein Leben und Verhalten seit Ende Februar durch meine ständigen Ortswechsel zwischen Deutschland und Skandinavien immer wieder drastisch verändert haben, leben Kalle, Erik, Lovisa, Johan, Hendrik und alle anderen, die Teil meines schwedischen Alltags sind, seitdem konstant in derselben leicht veränderten Coronanormalität; keine großen Parties (eigentlich, außer wenn…), ein bisschen weniger Besuche bei Oma und Opa (aber eigentlich ist das doch unmenschlich, also machen wir es zumindest manchmal doch), Zuhause bleiben, wenn man Schnupfen hat und ein bisschen öfter Händewaschen.

Würde ich nicht Zeitung lesen und im engen Kontakt mit meiner deutschen Familie stehen, würde ich in meinem Stockholmer Alltag nur sehr sehr wenig von der globalen Pandemie mitbekommen. Es ist doch eigentlich irgendwie schön, gerade jetzt in Schweden zu sein, sagt Lovisa, als ich ihr am nächsten Tag im Auto auf dem Heimweg von der Arbeit von meinen gemischten mulmigen Gefühlen und meiner Angst vor den weiteren Entwicklungen erzähle. Ja, eigentlich irgendwie schön weiter im gemütlichsten Café der Welt umgeben von tiefenentspannten Menschen zu arbeiten, eigentlich irgendwie schön, abends ganz normal ins Tanztraining zu gehen und mit 20 Anderen den Boden voll zu schwitzen, eigentlich irgendwie schön, liebe Leute zu umarmen und der alten Dame beim Einkauf-in-die-Tasche-Packen zu helfen aber eigentlich verursacht das auch irgendwie ein ziemlich komisches Gefühl in meinem Bauch. So weit weg hab ich mich noch nie von euch, so alleine noch nie in Stockholm gefühlt. Karantäneregeln, Reisebeschränkungen, Risikogebieteinteilungen, die Tatsache, dass deutsche Freunde über das Verhalten meiner Schwedenmenschen, über mich, ungläubig den Kopf schütteln und die Schweden den deutschen Lockdown als spießiges kein Leben deklarieren, das Wissen, dass spontane Besuche nicht möglich sind und Oma in naher Zukunft nicht einfach so mit mir Zimtschnecken bei À La Lo backen kann. All das vergrößert den Abstand zwischen meinen zwei Zuhauses in meiner Gedanken- und Gefühlswelt immens, auch wenn es auf der Weltkarte von Google Maps weiterhin ,, nur´´ 1615 Kilometer bleiben.

Ein bisschen ironisch, dass gerade ich am nächsten Morgen nach 16 (!) Stunden wirren Fieberträumen mit einer fetten Schnupfennase, Husten und Schüttelfrost aufwache. Zur Sicherheit entscheide ich mich, einen Coronatest zu machen. Auf dessen Ergebnis warte ich seit Mittwoch, alleine in meiner schon 10 mal geputzen, neu dekorierten Wohnung (Kann man in eine Wohnung verliebt sein? Wenn ja, dann bin ich ein richtig hoffnungsloser Fall), versorgt mit Essensvorräten in weiß-roten À La Lo- Taschen, komplett abgetaucht in dieses neu erschaffene virtuelle Atelier. Irgendwie hat mir die Einsamkeit, Zeit zum Kreativ sein, Kochen, Schlafen, virtuelle und wirkliche Wände Bekleben nach den vorangegangenen vollgestopften 50-Stunden-Arbeitswochen so gar nichts ausgemacht, bis ich heute Abend mit ganz besonders tollen Leuten in Deutschland eine FaceTimeFika ( Fika = traditionelle schwedische Innehaltungs-Wertschätzungs-Entspannungs-Kaffe-Zucker-Kuchenpause) veranstaltet habe, es um 16:00 schon komplett dunkel war, Pushnachrichten des Coronaliveblog von der Zeit auf meinem Handy aufgeploppt sind und der Wind durch unsere schlecht isolierten Fenster geblasen hat. Da hab ich mich richtig allein und viel zu weit weg von Menschen, die ich anschreien und abknutschen darf gefühlt und hätte am Liebsten den Abend mit meinen Eltern und meinem Bruder Max auf dem Sofa verbracht. Weil der Wunsch in dem Moment leider ein bisschen unerfüllbar war, hab ich die Spotify Playlist Songs to sing under the shower auf voller Lautstärke angemacht, hab heiß geduscht und bin beim Geschirrspülen durch die Wohnung getanzt.

Auf der Made-in-Sweden-Playlist, die meinen nächtlichen Schreibflash gerade akustisch begleitet und die mich daran erinnert, dass ich gerade in Schweden lebe, ich schwedische Lieder verstehen kann und das verdammt nochmal echt cool ist, kam gerade dieses irgendwie ein bisschen passende Lied, das jetzt Teil meiner levadrömmen- Playlist ist.


Von mir gibt es dazu ein Musikvideo mit Töpfen und pinkem Schneidebrett in der Hand, ich bin gespannt auf eure Interpretationen.

Danke an euch. Danke, dass es euch gibt, danke dass ihr zu Besuch in mein Atelier kommt, danke dass ihr so wunderschöne Nachrichten hinterlasst (bei ein paar davon hab ich heute ganz schön Pippi in die Augen bekommen), ich denk an euch und euren Lockdown.

FÜHLT euch so richtig fest umarmt und sabberig geküsst von einer nichtviren- aber hoffentlich coronafreien Marie!





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